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Zum Gebäudetypus der Lustschlösser und Lustgartengebäude

PliniusVillaLaurentianum
Die Villa Laurentinum des Plinius (um 61–114 n. Chr.), am Meer südlich von Ostia gelegen, ist nur durch die Briefe des reichen römischen Aristokraten, Politikers und Schriftstellers bekannt. Diese sogenannten Plinius-Briefe beflügeln Renaissancetheoretiker und Klassizisten zu Rekonstruktionen. Die Villa wird damit zum antiken Vorbild aller Lustschlösser vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Auch Karl Friedrich Schinkel nimmt sich des Themas an. Seine Rekonstruktionszeichnungen werden 1841 in Farblithographien von Hans Fincke veröffentlicht, wie die obige Farblithographie mit dem Titel  «Laurentinum des Plinius, vom Meere gesehen».

Das Laurentinum des Plinius als gemeinsames antikes Vorbild
Lusthäuser oder Lustschlösser sind ländliche Zweitsitze für einen längeren Sommeraufenthalt des Regenten und des Adels ausserhalb des strengen Hofzeremoniells. Sie stehen frei in grossen Gartenanlagen im nahen Umkreis der Residenzstadt. Sie können auch als Jagdschloss dienen oder als Lustgartengebäude nur für den Gartenaufenthalt gebaut werden. Wie Satelliten säumen die meist zweigeschossigen Lustschlösser schon im 17. Jahrhundert den Nahbereich von Residenzstädten. Im Frankreich des Sonnenkönigs werden sie «maisons de plaisance» genannt. Die gleichbedeutende Bezeichnung Lusthaus irritiert heute, aber im Barock steht plaisance oder Lust für Freude, Wohlgefallen und Erholung. Ihr gemeinsames antikes Vorbild ist die Villa Laurentinum des jüngeren Plinius, die in seiner Beschreibung überliefert ist und die alle Renaissancetheoretiker zu Rekonstruktionen beflügelt.[1] In Hellbrunn bei Salzburg erstellt Santino Solari 1613–1615 eines der ersten manieristisch-frühbarocken Lustschlösser nördlich der Alpen und dazu einen der phantasievollsten manieristischen Grottengärten der Kunstgeschichte.

Hellbrunn
Hellbrunn bei Salzburg, 1613–1615 von Santino Solari erbaut, ist eines der ersten manieristisch-frühbarocken Lustschlösser nördlich der Alpen.

Die «maisons de plaisance» im Frankreich des Sonnenkönigs
Der Dreissigjährige Krieg und die Türkenkriege verhindern im Deutschen Reich eine schnelle Ausbreitung von Lustgebäuden ausserhalb der befestigten Städte. Anders in Frankreich. Der 1661 erfolgte Entschluss des Sonnenkönigs, sein Jagdschloss Versailles als neue Residenz auszubauen, ist gleichzeitig Startschuss für neue Gärten und Gartenlustgebäuden des Königs, seiner Verwandten, Mätressen und Minister in der Umgebung von Paris.[2] Die französischen Gärten und ihre Gebäude werden schnell in Stichen veröffentlicht. Der deutsche Hochadel bewundert vor allem die Gartenanlagen, die in ähnlicher Art auch in Holland entstehen. Er versucht, sie zu kopieren.[3] In der Regel wird aber nur die französische Gartenarchitektur übernommen.

Sceaux
Jean-Baptiste Colbert, der Finanzminister von Louis XIV, lässt 1670–1673 in Sceaux (wahrscheinlich durch Antoine Le Pautre) ein «maisons de plaisance» mit einem grossen Garten von Le Nôtre bauen. Es ist eines der vielen Schlösser von Verwandten und Gefolgsleuten des Sonnenkönigs in der Umgebung von Paris. Das Schloss wird in der Französischen Revolution vollständig zerstört.
Bildquelle: «Vue du château de Sceaux du côté de la grille». Aquarellierte Radierung von Jacques Rigaud 1736, aus Wikipedia.

Die italienische Renaissance-Villa als Vorbild im deutschen Hochbarock
Die Gartenpalais und Lustschlösser, die vereinzelt nach dem Dreissigjährigen Krieg und vermehrt nach 1690 im Süden des Reiches entstehen, haben ihr Vorbild in der italienischen Renaissance und im italienischen Frühbarock. Wie in Hellbrunn und bei den meisten Villen Palladios ist der Piano Nobile auf einem Sockelgeschoss angeordnet und mit einer grossen und dominierenden Freitreppe erschlossen. Diese traditionelle Gebäudeform des Lusthauses oder der «villa in sito elevato» ist noch im süddeutschen Hochbarock die Regel. Domenico Egidio Rossi beginnt das Gartenpalais Liechtenstein in der Rossau noch mit zentraler Freitreppe, derart baut er auch das Jagdschloss Scheibenhardt. In der gleichen Art, abgeleitet von Serlio, baut Donato Giuseppe Frisoni das Lustschloss Favorite in Ludwigsburg. Die Freitreppe ist hier, wie auch bei Johann Michael Rohrer in der Favorite von Rastatt noch dominierender. Mit französischen Vorbildern haben diese Gebäude wenig gemeinsam, umso mehr aber mit dem gemeinsamen italienischen Erbe.
Auch das Lustgebäude Althann in der Rossau bei Wien, von Johann Bernhard Fischer von Erlach um 1689 gebaut, hat italienische Wurzeln. Sein Grundriss in Form eines Andreaskreuzes mit zentraler, ovaler Halle macht Furore, ist aber im wesentlichen eine Abwandlung des altbekannten Landhauses der Renaissance, das Serlio in seinem siebenten Buch (1575 Frankfurt) auf Seite 29 vorstellt. Vier meist quadratische Räume sind hier in der Diagonalen einer zentralen und an mindestens zwei Seiten ins freie orientierten Halle angeordnet. Bei Serlio ist die zentrale Halle oktogonal, das Oval ist schon bei Bernini die Regel.

Serlio1584   SerlioScamozzi1584   LudBurgFavorite   FischerErlachAlthann
             
Im zweiten Buch von Sebastiano Serlio (Paris 1545) ist auf Seite 35 die reine Form eines Lusthauses mit zentraler Halle enthalten.   Im dritten Buch von Sebastiano Serlio (Venedig 1540) ist der Grundriss einer Villa auf dem Land beschrieben. Quelle: Neudruck Scamozzi 1684, Seite 122.   1717–1719 baut Donato Giuseppe Frisoni das Lustschloss Favorite in Ludwigsburg. Dem Grundriss von Scamozzi fügt er die klassische böhmische Freitreppe als Hauptzugang bei.   1689 baut Johann Bernhard Fischer von Erlach das Lustgebäude Althann. Der Grundriss ist eine Abwandlung von Serlio (> 1575 Buch VII, Seite 29). Auch hier ist die Treppe wichtigstes hinzugefügtes Element.
     
Scamozzi1584   FavoriteRastatt
     
1678 erscheint in Nürnberg die deutsche Ausgabe des 1615 erstmals veröffentlichten Traktats von Vicenzo Scamotti über die Säulenordnungen. Im Buch III, Fol. 178, stellt er die Villa Badoer in Peraga vor, die er 1588 in Nachfolge von Andrea Palladio baut.
  1710 beginnt Johann Michael Rohrer mit dem Bau des Lustschlosses Favorite bei Rastatt. Unverkennbar ist auch hier die konzeptionelle Herleitung aus den italienischen Renaissance-Villen, auch wenn die beschwingte Freitreppe und die Ausführung nach Böhmen verweist.

     
Vaux   VauxGrundriss
In Vaux-le-Vicomte wird erstmals ein Schlossgebäude der Gartengestaltung untergeordnet. Das repräsentativ gebaute Parterre ist zum Garten geöffnet, das Obergeschoss zum Dienstgeschoss degradiert. Das «maison de plaisance» des Architekten Le Vau im Garten von Vaux-le-Vicomte ist einer der bedeutendsten barocken Profanbauten Frankreichs und Vorbild für die Gartenpalais, die ab 1700 im deutschen Sprachraum entstehen. Der Bauherr von Vaux-le-Vicomte, Finanzminister Nicolas Fouquet, wird 1661 nach dem Fest zur Einweihung verhaftet. Sein Amtsnachfolger Jean-Baptiste Colbert sorgt in den folgenden Jahren mit der Förderung des akademischen Klassizismus für ein Ende des römisch geprägten Barocks in Frankreich.
Bildquelle Foto Südseite: Jean-Pol Grandmont in Wikipedia. Bildquelle Grundriss Erdgeschoss: Wikipedia.

Vaux-le-Vicomte: Der französische Einfluss im deutschen Spätbarock
1655–1661 lässt der Finanzminister Nicolas Fouquet das Schloss Vaux-le-Vicomte bei Melun durch die Architekten Le Vau, Le Nôtre und Le Brun bauen. Erstmals wird ein repräsentatives Gebäude nur noch als Teil einer übergeordneten Gartenarchitektur gebaut. Offen und ohne Sockelgeschoss steht es in der gestalteten Landschaft. Die Haupträume liegen auf Gartenniveau. Das Obergeschoss ist kaum erschlossen. Die italienischen Wurzeln sind auch hier spürbar. Wie beim Laurentinum des Plinius ist das Haus zur Landschaft offen. Wie bei Serlio sind vier Eckrisalite symmetrisch um einen Mittelkomplex angeordnet. Der Grundriss ist allerdings in die Länge gezogen, ein Ovalsaal mit Kuppel dominiert die Südfassade.
Der Verzicht auf das repräsentative erste Obergeschoss findet im Schlossbau der deutschen Länder keinen Anklang. Aber die äussere Erscheinung dieses auf einer Gartenterrasse ruhenden Gebäudes ruft grossen Eindruck hervor. Abwandlungen von Vaux-le-Vicomte plant schon Johann Bernhard Fischer von Erlach, aber erst Johann Lucas von Hildebrandt setzt sie in seinen Gartenpalais-Bauten ab 1699 durch.[4] Die Treppe verlegt Hildebrandt dabei repräsentativ in den zentralen Mittelpavillon. Seine zweigeschossigen Wiener Gartenpalais werden zum neuen Vorbild im spätbarocken süddeutschen Schlossbau. Die äussere Freitreppe ist jetzt beim Lustschloss Vergangenheit.

WienBelvedere
Das Obere Belvedere in Wien, 1717–1723 für Prinz Eugen von Savoyen durch Johann Lucas von Hildebrandt erbaut, ist der mächtigste Gartenpalais der Barockzeit in Wien und einer der Höhepunkte der barocken Lustschloss-Architektur. Man kann das Obere Belvedere als «Summa» aller Ideen zu diesem Bautyp seit dem Beschrieb des Plinius zu seinem Laurentinum betrachten.
Bildquelle: Hans Peter Schaefer in Wikipedia.

Gartenlustgebäude
Die nur für kurzfristige Aufenthalte genutzten Gartenlustgebäude und die als Belvedere oder Teehaus gebauten Gartenpavillons folgen anderen Regeln. Nach dem Vorbild des Trianon de Porcelaine, einem im Garten von Versailles 1670 erstellten Gartenlusthaus, sind diese Gebäude nun eingeschossig. Wo sie einen gelegentlichen kurzfristigen Aufenthalt ermöglichen sollen, sind der zentrale Saal und die symmetrisch beidseitig angeordneten Rückzugs- und Diensträume üblich. Schönstes Beispiel ist die Amalienburg im Garten von Nymphenburg. Aber schon das Belvedere Liechtenstein, 1687 von Johann Bernhard Fischer von Erlach gebaut, ist eher eine in Architektur übersetzte Altarskulptur des klassischen Barocks ohne direkte Vorbilder. Im Rokokogarten und auch im Englischen Garten werden solche  Staffagearchitekturen vermehrt eingefügt. In Frankreich nennt man sie liebevoll «Folies», kleine Verrücktheiten. Wie die «Folie» Rohan in Saint Ouen zählen selbst bewohnbare eingeschossige Gartengebäude zu diesen fürstlichen Verrücktheiten. Damit ist auch eine Abgrenzung zum Lusthaus ausserhalb der Stadt, der «villa suburbuna» oder dem «maison de plaisance» verknüpft

FischerErlachLustgartengebäude   Amalienburg
Johann Bernhard Fischer von Erlach baut 1687–1690 das Belvedere im liechtensteinischen Garten in der Rossau bei Wien. Das luftige Gartenlustgebäude ist als Stich in den Vasendarstellungen des «Entwurfs einer historischen Architektur» (Buch V, Seite 12, Wien 1725) dokumentiert.   Im Garten des Schlosses Nymphenburg baut 1734–1740 François de Cuvilliés die Amalienburg. Das Rokokojuwel, das als nicht bewohnbares Lustgebäude das Schloss Vaux–le-Vicomte oder das Trianon von Versailles auf süddeutsche Art interpretiert.
Bildquelle: Guido F. R. Radig in Wikipedia.

Zusammenfassung
Das deutsche Lustschloss und das französische Maison de plaisance teilen das gemeinsame Erbe der italienischen Renaissance, vermittelt durch die Architekturtheoretiker Sebastiano Serlio und Vincenzo Scamozzi. Obwohl die Propaganda «pour l’éterniser la mémoire de Louis Le Grand» die Bauten des Sonnenkönigs im deutschen Kaiserreich schnell bekannt macht, werden die freistehenden Lustschlösser im Süden und Südwesten des Reichs noch bis ins erste Viertel des 18. Jahrhunderts mit dem traditionell im Obergeschoss gelegenen Piano Nobile gebaut. Die repräsentative Freitreppe ist Hauptmerkmal. Die Architektur ist dem italienischen Barock von Bernini verpflichtet. Erst das Vorbild der Gartenpalais-Bauten von Johann Lucas von Hildebrandt führt zu einer Hinwendung an die französischen Vorbilder, insbesondere an Vaux-le-Vicomte.
Pius Bieri 2014

Benutzte Literatur:
Krause, Katharina: Die Maison de plaisance. Landhäuser in de Ile-de-France (1660–1730). Berlin 1996.
Sedlmayr, Hans: Johann Bernhard Fischer von Erlach. Stuttgart 1997.

Anmerkungen:
[1] Das Laurentinum des Plinius, südwestlich Roms an der Küste gelegen, ist durch die sogenannten Villenbriefe (um 100 n. Chr.) bekannt. Vincenzo Scamozzi beschreibt es in seinem Traktat 1615, in dem er vor allem die Landhäuser Palladios vorstellt.

[2] König Louis XIV selbst baut als Dépendance von Versailles 1663 die Ménagerie (Le Vau), 1670 das Trianon de porcelaine (Le Vau), 1674 Clagny und Château du Val (Le Pautre und Mansart / Le Nôtre), 1678 Marly (Mansart), 1687 das Trianon de marbre (Mansart). Philippe d’Orléans baut bis 1677 Saint-Cloud (Le Pautre). Anne Marie d’Orléans baut 1680–1686 Choisy (Jacques Gabriel). Jean Baptiste Colbert baut 1670–1673 Sceaux (Antoine Le Pautre?). Weitere Maisons de plaisance im Umfeld des Sonnenkönigs: Meudon, Villeneuve-le-Roy, Montmorency. Die meisten dieser Anlagen und Gärten sind seit der Französischen Revolution zerstört.
Das Schloss Vaux-le-Vicomte des Ministers Nicolas Fouquet (Le Vau / Le Nôtre) ist 1661 schon gebaut. Seine Einbeziehung in die Gartenarchitektur hat Vorbildfunktion für alle späteren «maisons de plaisance».

[3] Beeindruckt ist Kurfürst Lothar Franz von Schönborn, der das Lustschloss des Sonnenkönigs in Marly seit seiner Kavaliersreise 1680 kennt und es in Mainz als «kleines Marly» unter dem Namen Favorite 1700–1722 am Rheinufer erstellt.
In der Wikipedia ist diese Favorite gut dokumentiert.

[4] Gartenpalais Starhemberg-Schönburg 1699. Gartenpalais Schönborn 1706. Oberes Belvedere 1717.

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