Wege zum süddeutschen Barock
Das italienische Erbe

Renaissance und Manierismus
Barocke Baukunst ist Teil einer umfassenden Gesamtperiode der abendländischen Baukultur, die 1420 in Florenz beginnt und mit dem akademischen Klassizismus am Anfang des 19. Jahrhunderts endet. Römische Baukunst, aufbauend auf den Grundlagen der griechischen Antike, ist in dieser Periode der Rohstoff architektonischer Gestaltung.
Barocke Baukunst beginnt dort, wo der klassische Kanon der Renaissance zugunsten der Freiheit von Raumschöpfungen aufgehoben wird. Ihre Vorstufe bildet der Manierismus, eine Spätform der Renaissance, die in Italien von 1530 bis 1600 und nördlich der Alpen noch bis 1620 stilbestimmend ist. Herausragendes und schon in den Barock weisendes Werk dieser Periode ist die Kuppel von St. Peter in Rom, deren Entwurf vielleicht noch von Michelangelo stammt. Die deutschen Wiederentdecker des Barocks um 1890 weisen den römischen Manierismus dem Frühbarock zu, da sich die Differenzierung erst später durchsetzt. Deshalb setzten sie den Beginn des Barocks um 1560 an.[1]

Giacomo della Porta und Carlo Maderno
Die römische Jesuitenkirche Il Gesù, die von Vignola 1568 begonnen wird, zählt nach heutiger Lehrmeinung zur manieristischen Periode der Renaissance.[2]
IlGesu Gehe zu den Plänen der Jesuitenkirche Il Gesù
Die Synthese von Zentral- und Langbau, die Vierungskuppel und die Ausgestaltung der Seitenkapellen von Il Gesù werden für viele Kirchen des kommenden Barocks typologisches Vorbild. Dazu zählt auch die Fassade von Giacomo della Porta,[3] die dieser 1571–1584 erstellt. Den Bautypus von Il Gesù verwendet Della Porta 1580 nochmals, aber kleiner und vereinfacht, beim Bau der zweiten Jesuitenkirche Santa Maria ai Monti. Diese wiederum wird zum Vorbild von Santa Maria della Scala, der 1593–1610 gebauten ersten Kirche des Ordens der unbeschuhten Karmeliten.
Karmelitennormen Gehe zu den Kirchenbau-Richtlinien des Ordens der unbeschuhten Karmeliten
Nachfolger und Vollender vieler Bauten von Della Porta wird Carlo Maderno.[4] Wie weitere führende Baumeister Roms stammt auch er aus der Region der oberitalienischen Seen. Mit ihm beginnt Anfang des 17. Jahrhunderts der römische Barock.

Gianlorenzo Bernini und Francesco Borromini
Der Beginn des Barocks in der Baukunst kann mit dem 1606 begonnenen Neubau des Langhauses und der Fassade von St. Peter in Rom durch Carlo Maderno angesetzt werden. Als erstes nicht mehr dem Renaissancekanon verschriebenes Profanbauwerk gilt der Palazzo Barberini in Rom, der durch Maderno im Jahre 1626 begonnen und durch Gianlorenzo Bernini[5] und Francesco Borromini[6] vollendet wird. Damit sind die Namen der wichtigsten Baumeister des römischen Barocks genannt. Bernini setzt mit dem Altartabernakel im Petersdom 1625 einen ersten Höhepunkt in der betonten Abkehr von der Renaissance. Er wird zum grossen klassischen Barockarchitekten. Sein römischer Konkurrent Borromini beginnt 1633 mit der gleichen Unbekümmertheit gegenüber Renaissancedogmen die Kirche San Carlo alle Quattro Fontane, eine der genialsten Raumkompositionen des Jahrhunderts. Aber erst durch den Turiner Guarino Guarini, der in Rom die Werke Borrominis studiert, findet seine Architektur im Norden der Alpen eine einmalige und grosse Verbreitung und wird zum Kennzeichen des süddeutschen Barocks.

BMRom Mehr zu wichtigsten Baumeistern des römischen Barocks
MarkSittich Kardinal Mark Sittich und Fürstbsichof Wolf Diettrich von Raitenau: Römischer Einfluss in Salzburg.

Berninis Schüler und Frankreichs Abkehr
Bis zum Tod Berninis 1680 ist Rom das eigentliche barocke Architekturzentrum. Bernini bleibt unangefochten der massgebende Architekt. Sein Schüler Carlo Fontana[7] ist Lehrer grossen Barockbaumeister, unter anderem des Schweden Nicodemus Tessin, des Schotten James Gibbs und wahrscheinlich auch der beiden ersten deutschstämmigen Hofarchitekten Johann Bernhard Fischer von Erlach[8]   und Johann Lucas von Hildebrandt.[9]
Auch Frankreich übernimmt vorerst die neuen Einflüsse aus Rom, entwickelt aber dann eine eigene barocke Architekturrichtung mit starker Rückbesinnung auf die Klassik. Bernini kann zwar einen Entwurf für den neuen Louvre liefern, französische Barock-Klassizisten werden ihm aber vorgezogen. Eine 1671 durch Colbert gegründete Architekturakademie festigt die klassische Tendenz. England und die protestantischen Länder des Nordens folgen dem Weg Frankreichs. Die barocken Bauten dieser Länder bleiben immer dem klassischen Ideal verhaftet.

Rom und das frühe 17. Jahrhundert im Norden der Alpen

München
Verwandtschaft mit Il Gesù, dies vor allem im Grundriss, hat die Jesuitenkirche St. Michael in München. Sie wird 1582–1597 durch Friedrich Sustris gebaut. Eine gewaltige Tonne wölbt das Längsschiff. Mächtige Mauermassen bilden das Widerlager. Kapellenräume sind als halbrund schliessende Konchen herausgehöhlt, darüber liegen belichtete Emporenräume, die in das Gewölbe einschneiden. Der riesige Saalraum ist dadurch gut belichtet und damit schon im tektonischen Aufbau weit entfernt von den römischen Ursprüngen.[10] St. Michael weist in der Haltung, nicht aber in der Tektonik, in den kommenden Barock. Die aufwendige Bauweise findet keine Nachfolger. Die Kirche ist ein Bauwerk der manieristischen Renaissance, was durch die Fassade noch betont wird.

Neuburg und Dillingen
Die ersten barocken Bauwerke nördlich der Alpen entstehen gleichzeitig mit den römischen Bauten von Bernini und Borromini. Italienisch sprechende Baumeister aus dem südbündnerischen Misox führen in Neuburg an der Donau und in Dillingen zwei wichtige Bauwerke aus. Die Architektur der 1607 begonnenen Hofkirche von Neuburg an der Donau ist wie die Münchner Jesuitenkirche noch dem Manierismus verpflichtet, der Prager Hofmaler Joseph Heintz ist hier Mitplaner. Die lichte Freipfeilerhalle mit Emporen ist eine gelungene Verbindung von italienischer Baukunst mit der spätgotischen Tradition der deutschen Hallenkirchen und stellt die Innenräume zeitgleicher römischer Kirchen wörtlich in den Schatten. Fast gleichzeitig, 1610–1617, baut Hans Alberthal die Jesuitenkirche von Dillingen als eine reine Wandpfeilerhalle. Dillingen kann als der erste barocke Kirchenraum nördlich der Alpen bezeichnet werden. Das tektonische Schema dieser Wandpfeilerhalle wird später von den Vorarlberger Baumeistern und auch von der Baumeisterfamilie Carlone aus der Valle d’Intelvi weitergeführt. Der Kunsthistoriker Adolf Reinle sieht bei diesen barocken Wandpfeilerhallen die Urheberschaft ausschliesslich bei den Graubündner Baumeistern aus dem Misox. Gehe zum Artikel «Zur architekturgeschichtlichen Stellung der Misoxer Baumeister» von Adolf Reinle 1973.[11]

Salzburg
1614–1628 erstellt Santino Solari den Salzburger Dom. Er ändert die Pläne des Palladio-Schülers Scamozzi und plant den Neubau in Anlehnung an die römische Jesuitenkirche Il Gesù, aber nun mit barocker Höhenentwicklung und Lichtregie. Zudem setzt er dem Bauwerk eine Doppelturmfront vor. Die Einweihung 1628 ist eine machtvolle Demonstration der gegenreformatorischen Reichskirche. Der bedeutendste Kirchenbau im Alten Reich vor dem Dreissigjährigen Krieg wird zum Symbol der wiedererstarkten römischen Kirche und dadurch auch zum Vorbild des nach Friedensschluss einsetzenden frühbarocken Kirchenbaus. Er wird deshalb auch als erste barocke Kirche im Norden der Alpen bezeichnet.[12]

Italiens Beitrag nach dem Dreissigjährigen Krieg
Es sind fast ausschliesslich Baumeister, Stuckateure und Freskanten aus dem Süden, die vorerst in den österreichischen Ländern und in Böhmen, dann auch im Westen die neuen Residenzen, Klöster und Kirchen bauen. Sie stammen, wie schon vor dem Krieg, aus dem Val d’Intelvi, dem Tessin oder dem Misox und prägen Residenzstädte wie Prag, Salzburg, Passau und München. Der dank dieser Wanderkünstler stattfindende Kulturaustausch ist von unermesslichem Wert. Ohne ihn wären weder die Wessobrunner Stuckateure noch die Vorarlberger Baumeister so schnell zu den Konkurrenten der «Italiener» geworden. Von den Vorarlbergern ist bekannt, dass sie in ihrer winterlichen Ausbildung auch die italienischen Architekturtraktate des 16. und 17. Jahrhunderts studieren, die Drucke kopieren und neu interpretieren. Noch fruchtbarer werden aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Studienaufenthalte und Ausbildungsjahre deutscher Künstler in Italien. Es sind meist Maler, seltener Bildhauer und Baumeister. Zu den Malern Storer, Asper, Schönfeld, Stevens von Steinfels und Schor gesellen sich jetzt als Schüler von Carlo Fontana auch die beiden Baumeister Bernhard Fischer von Erlach und Johann Lucas von Hildebrandt. Nach ihrer Rückkehr übernehmen sie in Salzburg, Wien und Prag den Platz der «Italiener».

Gurini und der süddeutsche Spätbarock
Die bewegte und kurvierte Architektur Borrominis findet in Rom kaum Nachfolger. Weiterhin ist der klassische Barock Berninis massgebend. Erst der Theatinerpater Guarino Guarini[13] sorgt mit seinen Werken – das bekannteste ist die 1666 begonnene Kirche San Lorenzo in Turin – aber auch mit seiner Reisetätigkeit für die Verbreitung der Nachfolge Borrominis im Norden, vor allem in Prag.
Borromini und Guarini sind die Väter des Spätbarocks in Böhmen, Österreich und Süddeutschland. Ihre Architektur fasst in Wien und Prag um 1700 fast gleichzeitig Fuss. Die Baumeister Dientzenhofer öffnen den Weg nach Westen.

Pius Bieri 2009. Rev. 2018

[1] Ich folge hier der Auslegung von Nikolaus Pevsner, dem grossen Kenner der europäischen Architekturgeschichte, und zähle Michelangelo und Vignola zu den Vorbereitern des Barocks. Ihre Zuordnung in den Frühbarock würde diesen Zeitraum in Rom von 1560 bis 1620 ausdehnen. Der Übergang von der Renaissance in den Barock ist allerdings derart fliessend, dass nur der Beginn des römischen Hochbarocks mit Bernini und Borromini um 1620 klar zu definieren ist.

[2] In der Kunstgeschichte wird dieser Bau vielfach als barockes Bauwerk bezeichnet, weil einerseits das Raumschema von Il Gesù im Barock mehrfach übernommen wird und andererseits die Meinung, der italienische Manierismus sei bereits Barock, noch immer latent vorhanden ist. Vergleiche dazu die Pläne der Kirche Il Gesù.

[3] Giacomo della Porta (1532–1602) aus Porlezza (Como), Bildhauer und Architekt, ist Schüler von Michelangelo und Vignola. Er gilt als einer der Wegbereiter des römischen Barocks.

[4] Carlo Maderno (1556–1626) aus Capolago (Tessin) ist Neffe des römischen Baumeisters Domenico Fontana. Er übernimmt schon vor dem Tod von Giacomo della Porta mehrere dessen Werke. Mit ihm beginnt der römische Barock.

[5] Gianlorenzo Bernini (1598–1680) aus Neapel, Bildhauer und wichtigster Architekt des klassischen römischen Barocks.

[6] Francesco Borromini (1599–1667) aus Bissone (Tessin), Lehre als Steinmetz bei seinem Verwandten Carlo Maderno in Rom. Rivale von Bernini. Borrominis Bauten sind massgebende Vorbilder für den süddeutschen Spätbarock..

[7] Carlo Fontana (1634–1714) aus Rancate (Tessin), Nachfolger von Gianlorenzo Bernini und Vertreter des klassischen römischen Barocks.

[8] Johann Bernhard Fischer von Erlach (1656–1723). Zu ihm siehe die Biografie in dieser Webseite.

[9] Johann Lucas von Hildebrandt (1668–1745). Zu ihm siehe die Biografie in dieser Webseite.

[10] Siehe dazu den Eintrag unter «Wandpfeilerbasilika» im Glossar dieser Webseite.

[11] Der Beitrag des Kunsthistorikers Adolf Reinle ist noch immer absolut gültig. Siehe dazu auch die Beiträge Jesuitenkirche Dillingen, Jesuitenkirche Eichstätt und die Biografie Hans Alberthal,
Zur Unterscheidung der Wandpfeilerhalle von der Wandpfeilerbasilika: Typologie der Wandpfeilerkirche.

[13] Guarino Guarini (1624–1683) aus Modena, Ordensbaumeister und Architekturtheoretiker. Sein Wirken in Prag und seine architekturtheoretischen Schriften sind massgebend für die Verbreitung des Spätbarocks in Süddeutschland.

IlGesuGrundirss
  Jesuitenkirche Il Gesù in Rom, 1568 von Vignola begonnen.
Quelle: Ricci, Baukunst der Hoch- und Spätrenaissance in Italien.
  IlGesuFassade   RomSantaSusanna
  Die bis 1584 durch Giacomo della Porta gebaute Fassade der Kirche Il Gesù. Sie ist Ausgangspunkt einer Weiterentwicklung zum Barock und Vorbild vieler Fassaden des Frühbarocks. Bild: Gaetano Quojani 1776, Quelle: Bibliotheca Hertziana.   Fassade von Santa Susanna, ab 1597 durch Carlo Maderno gebaut. Mit der mehrschichtigen Fassade und der Höhenentwicklung steht sie am Übergang zum Barock. Aus Rossi 1683. Quelle: ETH Zürich.
  bernini1623   borromini1628
  Gianlorenzo Bernini 1623.
Selbstporträt.
Quelle: Wikipedia
  Francesco Borromini, vor 1633. Quelle: Ausstellungskatalog.
  bernini-sanpietro   sancarlino
  Altartabernakel (Baldachin) im Petersdom, Bernini 1625.
Quelle: Vignola 1640
  Grundriss San Carlo alle Quattro Fontane, 1633 von Borromini. Quelle: Wikipedia.
  Jes-Muenchen   dillingen
  St. Michael in München, Nordwand. 1582–1597, von Friedrich Sustris.   Jesuitenkirche Dillingen (Studienkirche), 1610–1617, Wandpfeiler der Nordwand.
  grRiss_salzburg
  vedSalzbug
  Der Dom von Salzburg, 1614–1628 von Santino Solari.
Grundriss (oben). Quelle: Schallhammer 1859.
Vedute von Franz Anton Danreiter, aus: «Die saltzburgische Kirchenprospect», Augsburg um 1740.
Zum Dom von Salzburg siehe den Beitrag in dieser Webseite.
  TurinGuarini
  Turin, Kuppel der Kirche San Lorenzo, 1666 von Guarino Guarini.
Foto: Holger Edbauer.
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